Alpenstadt und nachhaltige Entwicklung -

Widerspruch oder gegenseitige Aufwertung?

Werner Bätzing

 

Was haben denn die Städte in den Alpen mit einer nachhaltigen Alpenentwicklung zu tun - die gehören doch gar nicht dazu!?

Fragen wir daher: Was sind die Alpen? In der europäischen Geschichte gibt es zwei grosse, klassische Alpenbilder: Die Alpen als "montes horribiles", also die furchtbaren, schrecklichen Berge, erfunden von römischen Schriftstellern und prägend bis ins 18. Jh., und die Alpen als "Idylle", als bukolische Harmonie von Mensch und Natur, erfunden von den Romantikern am Ende des 18. Jhs. und prägend bis etwa 1980. In den letzten 15 Jahren gerät das Bild der Idylle durch die Umweltzerstörungen ins Wanken. Schlagworte sind: Alpen vor dem Kollaps; der Berg ruft nicht mehr, er kommt; Berg heul statt Berg heil, mit den Alpen gehts bergab, und im Bild der Alpen als einer Öko-Horror-Vison schimmert wieder stark das alte Bild der "montes horribiles" durch.

Diese genannten Alpenbilder, in denen Städte nicht vorkommen, sind Zerrbilder der Alpen, entstanden in alpenfernen, städtischen Bildungskreisen. Italienische Kollegen würden sogar noch deutlicher formulieren: Diese Zerrbilder repräsentieren die Kolonialisierung der Alpen durch die europäischen Städte!

Was sind die Alpen dann? Die Alpen sind eine ländliche Region, in der Städte zwar traditionellerweise weder besonders gross noch besonders häufig waren, deren Entwicklung in historischer Zeit aber trotzdem nicht unmassgeblich von den Städten mitgeprägt wurde. Insofern gehören die Städte untrennbar zu den Alpen dazu, und die Abgrenzung der Alpen durch die Alpenkonvention lässt daran keinerlei Zweifel. Trotzdem bleibt ein Zweifel. Dort, wo die Alpenkonvention konkret wird, in den Protokollen, dominieren "ländliche" Themen, und Städte kommen als Protokollinhalt nicht vor. Hier haben offenbar die falschen Alpenbilder noch die Politik geprägt.

Und was ist eine Stadt? Industrialisierung bedeutet in Europa Städtewachstum und dabei löst sich die Stadt allmählich auf, und das gilt auch für die Alpen: In der ersten Phase, der Urbanisierung, wächst der alte Stadtkern stark und wird völlig umstrukturiert. In der zweiten Phase, der Suburbanisierung, verlagert sich das Wachstum an den Stadtrand, wo völlig neue und grosse Wohn- und Gewerbegebiete entstehen. Und in der dritten Phase, der Periurbanisierung oder Desurbanisierung wächst v.a. das weitere Umland der Städte, wo sich die Bauerndörfer zu Schlafdörfern verwandeln. Daher muss man heute anstelle von Stadt besser von "Stadtregion" oder von "Agglomeration" sprechen.

Und welchen Stellenwert haben jetzt die Städte bzw. Agglomerationen im Alpenraum? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil jeder Staat hierbei andere Schwellenwerte ansetzt und anders abgrenzt.

Tasten wir uns deshalb Schritt für Schritt vor: Wenn wir den Schwellenwert von 10.000 Einwohnern als Mindestgrösse für eine Stadt ansetzen, dann gibt es 1991 195 Städte in den Alpen, in denen ein Drittel der gesamten Alpenbevölkerung lebt!

Addiert man alle Gemeinden, die in den acht Staaten mit Alpenanteil jeweils als Agglomerationsgemeinden klassifiziert sind (was ein Student von mir, Kirk Ingold, in seiner Examensarbeit in mühevoller Kleinarbeit gemacht hat), dann erhält man knapp 900 Gemeinden, in denen 1991 44 % der gesamten Alpenbevölkerung auf nur 12 % der Alpenfläche leben.

Die grösste Agglomeration der Alpen ist übrigens Grenoble mit etwa 415.000 Einwohnern, gefolgt in weitem Abstand von den Agglomerationen Innsbruck (250.000 E.), Bozen und Trient (gut 200.000 E.), und an fünfter Stelle folgt dann Klagenfurt mit knapp 150.000 Einwohnern.

Wenn man davon ausgeht, dass eine Agglomeration, die eine europäische Bedeutung besitzt, heute mindestens eine halbe Million Einwohner haben muss, dann können wir feststellen, dass keine einzige Agglomeration in den Alpen diesen Wert erreicht - die Alpen spielen auf dieser Ebene in Europa offenbar keine Rolle!

Doch zurück zum Stellenwert der verstädterten Gebiete in den Alpen: Nach einer Hochrechnung von mir, die auf der Basis der Analyse von 45 % aller Alpengemeinden beruht, leben 1990 zwei Drittel der Alpenbevölkerung in verstädterten Regionen, und diese machen etwa 40 % der gesamten Alpenfläche aus.

Und nach einer Berechnung mittels der OECD-Definition für "ländlichen Raum" leben heute 62 % der Alpenbevölkerung in städtischen Regionen auf 28 % der Alpenfläche.

Ich will Sie jetzt mit der Interpretation und Bewertung dieser Berechnungen nicht langweilen, sondern sie ganz einfach so zusammenfassen: Von der Fläche her sind die Alpen heute noch eindeutig ein ländlicher Raum, aber die Bevölkerung - und damit die Wirtschaft - sind bereits mehrheitlich städtisch geprägt, wobei die Werte je nach Berechnung zwischen 50 % und 66 % schwanken.

Für die nachhaltige Alpenentwicklung hat dieses vielleicht überraschende Ergebnis wichtige Konsequenzen:

1. Da nachhaltige Entwicklung von den betroffenen Menschen ausgehen muss und da die Mehrheit der Bevölkerung in verstädterten Regionen lebt, kommt den Alpenstädten schon rein aus quantitativen Gesichtspunkten die führende Position bei der Umsetzung der Nachhaltigkeit zu.

2. Dieser quantitative Aspekt ist aber durch einen qualitativen zu ergänzen: In den Alpenstädten konzentrieren sich hochwertige Dienstleistungen und Ausbildungsfunktionen, denen für die nachhaltige Entwicklung der gesamten Alpen ein wichtiger Stellenwert als Innovationszentren zukommt. Allerdings setzt das voraus, dass sich diese Dienstleistungsbetriebe und Ausbildungsstätten mit den aktuellen Problemen der Alpen auseinandersetzen, dass sie sich für die Alpen insgesamt verantwortlich fühlen - und das ist heute nicht oder nur ansatzweise der Fall.

Ich möchte an dieser Stelle einen Gedanken des Walliser Ethnologen Thomas Antonietti aufgreifen: Das Bild der Alpen als bloss ländlicher Raum mit glücklichen Kühen und Sennen ist ein Zerrbild. Dadurch wurde im öffentlichen Bewusstsein verdrängt, dass in den Alpen stets auch Elemente der Hochkultur präsent waren, gebunden an Klöster, Handelsstädte, Fürsten- und Bischofssitze oder den Bergbau, und dass diese Elemente der Hochkultur einen festen Platz in der traditonellen Identität der Alpenregionen hatten. Daran kann und muss man bewusst anknüpfen. Deshalb braucht es heute zur Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung ganz bewusst auch städtische Initiativen und Impulse, ohne deshalb natürlich ländliche Impulse auszuschliessen. Und die zentrale Herausforderung dabei lautet: Das Stadt-Land-Verhältnis in den Alpen wieder komplementär, also in gegen- besser wechselseitiger Ergänzung und Stärkung zu gestalten.

Das also wäre der Beitrag der Alpenstädte zur nachhaltigen Alpenentwicklung. Aber dabei möchte ich nicht stehenbleiben, denn die Alpenstädte müssen sich selbst auch ganz besonderen Herausforderungen stellen, nämlich in ihren Bereichen Umwelt, Wirtschaft und Kultur.

Beginnen wir mit der Umwelt: Alle klassischen Umweltprobleme der europäischen Grossstädte wie Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung, Lärm, Bodenversiegelung usw. haben wir auch in den Alpen: Obwohl die Einwohner- oder Pkw-Zahlen wesentlich niedriger sind als im Ruhrgebiet oder in Berlin, erreichen die Belastungen ähnlich hohe Werte - Schuld daran sind die alpine Topographie und die häufigen Inversionswetterlagen. Hier braucht es eine ganz bewusste Agglomerationspolitik, die viele Elemente der europäischen Agglomerationspolitiken aufnehmen kann: Stichworte: Reurbanisierung, also Aufwertung des Stadtkerns, Nutzungsdurchmischungen, Aufbau multifunktionaler Strukturen, Stärkung des öffentlichen Verkehrs, Siedlungsverdichtung und -konzentration an Stelle flächenfressender Einfamilienhaussiedlungen usw. Allerdings all das sorgfältig abgestimmt auf die spezifischen topographischen Verhältnisse der Alpen, nicht bloss als Übernahme fremder Vorbilder.

Kommen wir zweitens zur Wirtschaft: Fast alle Alpenstädte verzeichnen in den letzten Jahrzehnten eine starke, kontinuierliche Bevölkerungszunahme und ein gutes bis sehr gutes Wirtschaftswachstum - Ausnahme sind einige alte Industriestädte mit Strukturproblemen und einige wenige Städte mitten in den Alpen, die keinen modernen Verkehrsanschluss besitzen und die deshalb ins Abseits geraten sind. Was ist die Ursache dieser positiven Wirtschaftsentwicklung?

Erstens: Die Verteilung von wirtschaftlicher Standortgunst und -ungunst hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa stark geändert, und teilweise per Zufall, teilweise wegen der hohen Umwelt- und Freizeitqualität liegen grosse europäische Wachstumsräume - im Gegensatz zu früher - jetzt auf einmal in Alpennähe: München und Stuttgart in Deutschland, Lyon und Nizza in Frankreich, Mailand in Italien, und die benachbarten Alpenstädte werden damit als Wirtschaftsstandorte aufgewertet.

Die zweite Ursache für das Wirtschaftswachstum der Alpenstädte ist die Dezentralisierung von Wirtschaftsstandorten entlang der grossen Transitlinien, also in optimaler Erreichbarkeit zu den europäischen Metropolen, und es ist kein Zufall, dass drei der vier grössten Alpenstädtean der Brennerroute liegen (Innsbruck, Bozen, Trient)!

Durch den Ausbau aller Verkehrswege und die Installierung der modernen Kommunikationstechniken wird die Entfernung von München nach Innsbruck oder von Lyon nach Grenoble immer kürzer, aber zugleich wird die Entfernung Innsbruck - Ötztal oder Innsbruck - Sellrain relativ länger - die Alpenstädte vernetzen sich immer enger mit den europäischen Städten und schweben dabei in der grossen Gefahr, den Bezug zu ihrer eigenen Region und zu den Alpen zu vernachlässigen oder ganz zu verlieren.

Dieser Strukturwandel läuft seit 20 Jahren immer schneller ab, und er führt zu einer vollständigen Umgestaltung der Alpenstädte: Die Alpenstädte verlieren immer mehr ihre Funktion als "zentraler Ort" für ihr Umland, und sie werden immer stärker zum Vorort einer europäischen Metropole, mit der sie immer enger arbeitsteilig verflochten werden. Das Negative bei diesem Strukturwandel, was durch das Wirtschaftswachstum oft verdeckt wird, ist der Verlust von wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsfunktionen in den Alpenstädten.

Nachhaltige Alpenentwicklung bedeutet für die Alpenstädte, diesem Funktions- und Bedeutungsverlust gezielt entgegenzuwirken mittels einer Wirtschaftspolitik, die ganz bewusst die klein- und mittelständischen Unternehmer ins Zentrum stellt, die ganz bewusst die Funktion der Stadt für ihr Umland pflegt und aufwertet und die systematische Vernetzungen mit anderen Alpenstädten aufbaut ("Netzwerk Alpenstädte"). Zentrales Element einer solchen Wirtschaftspolitik könnte die Bodenpreispolitik sein: Aufgrund der Topographie sind geeignete Standorte knapp und die Bodenpreise oft astronomisch hoch. Anstatt die Bodenpreise dem freien Markt zu überlassen, was die Verdrängung der lokalen Betriebe durch auswärtige bedeutet, könnte die Stadt eine aktive Bodenpolitik entwickeln (Recycling von Industriebrachen, evtl. Überbauungen von Bahnhöfen oder Strassen) und damit der mittelständischen Wirtschaft eine bessere Zukunftschance geben.

Nach den Bereichen Umwelt und Wirtschaft kommen wir nun zum dritten Bereich einer nachhaltigen Alpenstadtentwicklung: der Kultur. Alpenstädtesind geprägt durch eine hohe berufliche Mobilität, durch viele Zuzüger und durch Phänomene wie Anonymität und Zerfall gemeinsamer Identitäten und Werte - ähnlich wie in allen europäischen Grossstädten, wenn auch oft noch schwächer ausgeprägt - aber die Richtung ist ähnlich.

In diesem Bereich geht es darum, die Basis für eine gemeinsame Umweltverantwortung aller Einwohner, auch der Berufspendler, die in der Agglomeration wohnen, aufzubauen. Dazu braucht es eine gemeinsame kulturelle Identität, die sich m.E. auf zwei Pfeiler stützen müsste: Einmal auf die besondere Geschichte der Stadt und die Charakteristika der Alpenregion, in der diese Stadt liegt, und zum anderen auf die Dimension der Weltoffenheit und des kulturellen Austausches, der zur europäischen Stadt untrennbar dazugehört. Diese Aufgabe des Aufbaus einer gemeinsamen Umweltverantwortung halte ich persönlich für die wichtigste und schwierigste aller drei Aufgaben.

Nach der Beantwortung der Frage, welche Aufgabe den Alpenstädten im Hinblick auf die nachhaltige Gesamtentwicklung der Alpen zukommt, haben wir jetzt also die Frage beantwortet, was nachhaltige Entwicklung für die Alpenstädte selbst bedeutet, und Sie haben gesehen, dass dies eine sehr grosse Herausforderung darstellt, die aber für die Zukunft der Alpenstädte und für die Zukunft der Alpen insgesamt von grosser Bedeutung ist. Deshalb begrüsse ich ausdrücklich die Initiative "Villach - Alpenstadt des Jahres '97" und wünsche Ihnen und mir, dass daraus wichtige Impulse erwachsen.

Arbeitslosigkeit, Sozialabbau, globale Umweltverschmutzung, zunehmende rassistische Konflikte - ich glaube nicht, dass sinnvolle Lösungen dieser Weltprobleme auf globaler Ebene gefunden werden können, sondern ich sehe sie statt dessen "unten" entstehen, dort, wo man mit konkreten Problemen konfrontiert ist und konkrete Lösungen suchen muss. Ich bin überzeugt davon, dass sich mit der Alpenkonvention eine nachhaltige Entwicklungsmöglichkeit zeigt, die zwar noch sehr schwach ist, in der aber eine reale Alternative sowohl zur Globalisierung, als auch zur fundamentalistischen Abschottung sichtbar wird, die auf ein "Europa der Regionen" abzielt. Natürlich können die Alpenregionen dies nicht allein realisieren, aber sie könnten eine entsprechende Entwicklung in Europa anstossen und unterstützen: So wie in den 70er und 80er Jahren aus den Alpen wesentliche Impulse dafür kamen, dass der Tourismus europa-/weltweit Natur nicht bloss vernutzen darf, sondern dass er sich für die Ökologie der menschlich veränderten Natur verantwortlich zeigen muss, und so, wie in den 80er und 90er Jahren die alpinen Transitinitiativen deutlich machten, dass der Verkehr nicht nur in den Alpen, sondern europaweit grosse Probleme macht, was wichtige Impulse für eine Ökologisierung der europäischen Verkehrspolitik bedeutete, genauso könnten die Alpen heute und in Zukunft mit der Idee der Alpenkonvention europaweit Ansätze für ein föderalistisches "Europa der Regionen" und regionsspezifische Nachhaltigkeitsstrategien ermutigen und stärken.

 

 

Werner Bätzing

48 Jahre beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Thema Alpen und hat u.a. ein sehr lesenswertes Lexikon über die Alpen herausgegeben.
Er hat Evangelische Theologie, Philosophie und Geographie studiert und ist seit 1995 Professor für Kulturgeographie am Institut für Geographie der Universität Erlangen-Nürnberg.

 

Kontaktadresse:

Werner Bätzing, Institut für Geographie, Universität Erlangen-Nürnberg, Kochstrasse 4, D-91054 Erlangen